Mehr als 150 Teilnehmer, darunter zahlreiche Ehrengäste aus Justiz und Politik, folgten am 17.07.2024 der Einladung des Bayerischen Richtervereins und des Deutschen Richterbundes in den Münchener Justizpalast zu einer öffentlichen Podiumsdiskussion im Rahmen der Reihe „Justiz im Dialog“. Unter dem Titel „Brüchiges Bollwerk – Was schützt den Rechtsstaat vor Angriffen von innen“ gingen ausgewiesene und hochkarätige Experten der Frage nach, ob unser Rechtsstaat über die notwendigen Sicherungsinstrumentarien verfügt, um Angriffen von innen zu widerstehen und die freiheitlich-demokratische Grundordnung kraftvoll zu verteidigen.
In seinem einführenden Vortrag stellte der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier heraus, dass das Grundgesetz eine streitbare Demokratie geschaffen habe und seine tragenden Werte und Prinzipen – anders als in der Weimarer Reichsverfassung – über Artikel 79 Abs. 3 auch gegen demokratische Mehrheiten abgesichert seien. Danach ist eine Änderung des Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, unzulässig.
Papier wies auf die Gefahr einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft hin. Diese bestehe, wenn ein Parteiverbotsverfahren als vermeintlich leichtere Alternative der politischen Auseinandersetzung der argumentativen Bekämpfung von Feinden der Demokratie und des Rechtsstaats vorgezogen werde. Das Grundgesetz vertraue auf die Fähigkeit der Bürger, sich mit den Gefahren für die Demokratie auseinanderzusetzen und diese abzuwehren. Seinen Vortrag schloss er mit einem Appell an den Gesetzgeber, die Rechtsprechung als dritte Gewalt und insbesondere das Bundesverfassungsgericht konkreter im Grundgesetz zu verankern und diese dadurch der Disposition der politischen Mehrheit zu entziehen. Mit den Mitteln des Rechts allein sei es jedoch nicht möglich, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu sichern. Ohne dass die Bürger aktiv für die Demokratie einträten, drohe dem Rechtsstaat und der Demokratie der Verfall.
In der anschließenden Podiumsdiskussion, die von Roland Kempfle, Vizepräsident der Europäischen Richtervereinigung, moderiert wurde, erläuterten zunächst der frühere Präsident des Europäischen Netzwerks der Justizverwaltungsräte (ENCJ) Prof. Dr. Kees Sterk und Dr. Gerhard Reissner, vormals Präsident der Internationalen Richtervereinigung (IAJ) und des Beirates Europäischer Richterinnen und Richter (CCJE), Prozess und Inhalt der Justizreformen in Polen und Ungarn in den vergangenen Jahren. Sie wiesen darauf hin, dass primäres Ziel dieser Reformen die Besetzung der Verfassungs- und Instanzgerichte mit politisch loyalen Richtern gewesen sei. Sterk erläuterte vor diesem Hintergrund, wie es die Einführung eines Justizverwaltungsrats in den Niederlanden ermöglicht hat, die Ernennung und Beförderung von Richtern der politischen Beeinflussung zu entziehen. Anschließend erinnerte Prof. Dr. Heribert Prantl, ehemaliges Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung, zunächst an Carlo Schmid, der bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates 1948 sagte: „Demokratie ist nur dort mehr als ein Produkt einer bloßen Zweckmäßigkeitsentscheidung, wo man den Mut hat, an sie als etwas für die Würde des Menschen Notwendiges zu glauben. Wenn man aber diesen Mut hat, dann muss man auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.“ Prantl plädierte dafür, die Möglichkeiten, die die Verfassung zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vorsieht, aktiv zu nutzen, und warnte gleichzeitig davor, abzuwarten, bis es zu spät ist. Papier äußerte an dieser Stelle nochmals Bedenken, dass etwa ein Parteiverbotsverfahren die demokratischen Bürgertugenden aktivieren würde und stellte fest: „Eine Demokratie ohne Demokraten ist genauso wenig vorstellbar wie Europa ohne Europäer.“
Die Vorsitzende des Bayerischen Richtervereins Barbara Stockinger freute sich darüber, dass die Veranstaltung auf so große Resonanz gestoßen ist: „Mit der Themenauswahl haben wir – nicht nur bei unseren Kolleginnen und Kollegen – einen Nerv getroffen. In Polen und Ungarn war zu sehen, wie schnell vermeintlich stabile Rechtsstaaten kippen können, wenn illiberale Kräfte es genau darauf anlegen. Es braucht also Lösungen, dass unser Rechtsstaat nicht von innen heraus sabotiert werden kann und weiter in der Lage ist, antidemokratischen Bestrebungen standzuhalten.“